Im Memoriam
Mag.a Gertrud Held (1939–2022)
Gertrud Held, die am Institut Kunstsammlung und Archiv auch „unsere Heldin“ genannt wurde, ist am 19. November 2022 völlig unerwartet gestorben. Ihr Tod berührt uns tief, da wir mit ihr eine wunderbare Kollegin und manche von uns eine liebe Freundin verloren haben. Beinahe zehn Jahre war Gertrud Held ehrenamtlich als Kunsthistorikerin im Oskar Kokoschka Zentrum (OKZ) tätig.
Dabei war sie stets freundlich, offen für Neues, mit großer Leidenschaft für ihre wissenschaftlich-archivarischen Arbeiten und von großer Bescheidenheit. Angeregt durch einen Schreibaufruf hatte sie begonnen, ihre eigene Bildungsbiografie festzuhalten. Darin heißt es lapidar: „Nach dem Tode der Witwe von Oskar Kokoschka kam 2004 dessen Bücherbesitz und Fotobestand an die Kunstsammlung in das Archiv der Universität für angewandte Kunst in Wien, Kokoschkas ehemalige Ausbildungsstätte - früher Kunstgewerbeschule. Im Rahmen eines unentgeltlichen Gastforschungsvertrages (von Ende 2005 bis Ende 2014) habe ich in Teilzeitarbeit etwa 4000 Bücher inventarisiert und einschlägige Recherchearbeiten erledigt.“ Tatsächlich kamen neben dem Bibliotheksnachlass Kokoschkas auch noch hunderte Bücher aus dem Bestand der Oskar Kokoschka Dokumentation Pöchlarn hinzu, die sie in unserer Datenbank erfasst hat. Im Archiv des OKZ hatte sie die von Olda Kokoschka in Kuverts gesammelten Clippings (Zeitungsartikel) erstmals geordnet und erschlossen. Die „einschlägigen Recherchearbeiten“ umfassten de facto alle relevanten Bereiche, also Anfragen von Forscher:innen, zu Ausstellungsprojekten und vielem mehr.
Gertrud Held, unser Heldin, war ein durch und durch bescheidener Mensch und zugleich stets ein kritischer und reflektierender Geist. Nicht aus Eitelkeit oder Geltungsbedürfnis arbeitete sie an der erwähnten Bildungsbiografie, sondern aus der eigenen Erkenntnis, dass Bildung stets sozial vererbt war und nach wie vor ist. Im Jahr 1991 begann sie das Diplomstudium Kunstgeschichte an der Universität Wien. Eine kunsthistorische, oder überhaupt eine akademische Laufbahn zeichnete sich bei der Geburt nicht ab, im Gegenteil. Am 12. Februar 1939 kam sie in Brückl, einer kleinen Marktgemeinde im Bezirk St. Veit an der Glan in Kärnten zur Welt und wuchs in sehr bescheidenen Verhältnisse auf. Ihr Vater fiel schon bei Kriegsbeginn. An eine umfangreichere Schulausbildung, geschweige denn ein Studium war nicht zu denken. Doch mit der Unterstützung einer kinderlosen Tante, vor allem aber durch ihre Zielstrebigkeit, machte sie die Handelsschule, die für sie ein erstes auch berufliches Sprungbrett war. Ihre Neugierde und ihr Wissensdurst blieben und so ging sie mit 19 Jahren nach Wien, wo sie auch nach ihrer Heirat und der Geburt ihrer Tochter Elisabeth kontinuierlich berufstätig war, für das Forschungszentrum Seibersdorf und im Pharmabereich. Zu ihrem späten Studienbeginn schrieb sie: „Ich wollte endlich nachholen, was durch meine Lebensumstände wie Herkunft und Erwerbstätigkeit nicht möglich war. Schließlich hatte ich durch die Externistenmatura die Hochschulberechtigung. Es war der Wunsch, sich auf einem persönlichen Interessensgebiet weiterzubilden und der Wunsch nach Selbstentfaltung. Es war keine Weiterbildung für das Berufsleben noch ergab sich eine Notwendigkeit der beruflichen Verwertbarkeit.“ Ihre Diplomarbeit Zur Forschungsgeschichte des Gartens der Lüste von Hieronymus Bosch hatte sie 2004 geschrieben. Ihre Diplomprüfungsthemen lagen in der Altniederländischen Malerei und – schon in Nähe zu ihrer späteren Arbeit im OKZ – bei Max Beckmann und seiner Zeit. „Dass der österreichische Staat einem Senior, der eigentlich keine (Aus)bildung mehr braucht, ein Studium ermöglicht, ist mehr als anerkennenswert. Dafür wollte ich mich mit einer notwendigen [...] Kleinarbeit, zum Beispiel in einem Archiv, dankbar erweisen. Dabei kam mir der Zufall – ich nenne es Glück – zu Hilfe. Bei Studienbeginn nicht beabsichtigt, ergab sich nun die Möglichkeit einer beruflichen Verwertbarkeit.“ Wenige Monate nach Studienabschluss begann sie für das OKZ zu arbeiten und wurde zu einer wichtigen, verlässlichen und hilfsbereiten Kollegin. Bald hatte sie sich ein großes Wissen zu Kokoschka und seiner Kunst angeeignet. Ihr Interesse war immer groß und man machte oft gemeinsame Exkursionen und Reisen zu Ausstellungen und Veranstaltungen, u. a. nicht nur nach Pöchlarn, sondern auch nach Prag, Budapest, Zürich und natürlich nach Vevey, wo der Künstler ab 1953 gelebt hatte.
Immer wieder ergriff sie in die Möglichkeit wissenschaftlich sowie für Vermittlungsprojekte zu Kokoschka zu publizieren. So hat sie Kommentare für die OKZ-News und die umfangreiche Biografie des Künstlers für die Website des OKZ verfasst. Auch in der 2013 erschienenen, zweisprachigen Fotobiografie Oskar Kokoschka. Ein Künstlerleben in Lichtbildern. Aus dem Oskar Kokoschka Zentrum an der Universität für angewandte Kunst Wien hatte sie mit großer Sorgfalt die Künstlerbiografie erstellt. Für die vom OKZ kuratierte Ausstellung im Kokoschka Museum Pöchlarn, etwa für Oskar Kokoschka. Begegnungen. Freunde - Gönner – Auftraggeber (2009), hat sie zahlreiche Kurztexte und Biografien aus dem Umfeld Kokoschkas recherchiert und geschrieben. Neben den sich aus dem Arbeitsalltag entwickelnden Aufgaben arbeitete sie an Spezialthemen, für die sie auch in anderen Archiven Recherchen unternahm und penibel geführte, bis heute genutzte Dossiers anlegte. Dazu zählen Kokoschka-Bildnissen, die von anderen Künstler:innen geschaffen wurden und die Rezeption durch Komponisten und Bühnenkünstler:innen – das Theater, insbesondere das zeitgenössische Theaterschaffen war eine ihrer großen Leidenschaften.
Ihr besonderes Steckpferd war die Karikatur. Kokoschka und seine Kunst wurden seit seinem Ausstellungsdebüt 1908 vielfach ins Visier genommen und mit spitzer Feder kommentiert. Gertrud Held hat eine umfangreiche Sammlung dazu angelegt und 2011 ausgehend von einer Serie von Karikaturen die bislang unbekannte, präfaschistische Bildattacke auf ein Kokoschka-Gemälde 1924 in Wien aufgerollt. Ihr detailreicher Aufsatz „Messerstecher und Kunstsalon“. Der Anschlag auf ein Kokoschka-Bild im Jahre 1924 in Wien. Mit einem Exkurs zur Ausstellung „Entartete ‚Kunst’“ 1937 in München erschien im Egon Schiele Jahrbuch, Band I, 2011 (S. 90–107).
Aus persönlichem Interesse hatte sie auch zu Kokoschka im Ersten Weltkrieg geforscht. Hundert Jahre nach Kriegsbeginn lud sie Régine Bonnefoit, Professorin für Kunstgeschichte und Museologie an der Université de Neuchâtel in der Schweiz und damals auch Conservatrice der Fondation Oskar Kokoschka in Vevey, zur Zusammenarbeit ein. Ihr gemeinsamer Aufsatz Oskar Kokoschka 1915–1917. Vom Kriegsmaler zum Pazifisten wurde 2014 im Ausstellungskatalog 1914 Die Avantgarden im Kampf der Bundeskunsthalle Bonn (S. 246–253) veröffentlicht. Gertrud Held war, wie sie in ihren Erinnerungen festhielt, bei „aller Bescheidenheit [...] richtig stolz“ darauf! Unsere Schweizer Kollegin schrieb kurz nach Gertruds Tod: „Gerne denke ich an unsere gemeinsamen Kokoschka-Ausflüge zurück: eine Reise nach Prag und Pöchlarn sowie die gemeinsame Publikation zu Kokoschka im Ersten Weltkrieg, für die Gertrud das Kriegsarchiv im Österreichischen Staatsarchiv durchforstet hatte, während ich Materialien in Kokoschkas Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich gesucht habe. Wir waren ein sehr harmonisches und komplimentäres Forschungspaar. Deine Freude an der Entdeckung neuer Erkenntnisse war ansteckend.“
Unsere Heldin war durch ihr Engagement und ihre Begeisterungsfähigkeit, kunsthistorisch, aber oft auch bei simplen Tätigkeiten, die im Archiv, in der Sammlung nötig sind, ihre Genauigkeit, Verlässlichkeit und Hilfsbereitschaft eine liebeswerte Kollegin geworden, die dennoch nie ihr kritisches Sensorium verloren oder verleugnet hat. Auch nach ihrem Weggang 2014 waren wir in Kontakt geblieben, haben ihre feine, freundliche und immer interessierte Weise ihren Mitmenschen zu begegnen sehr geschätzt. Wir trauern um Mag.a Gertrud Held – unsere Anteilnahme und Gedanken sind bei ihr, ihrem Lebenspartner Ernst, ihre Tochter Elisabeth und ihrer Familie.
Wir vermissen Dich – Adieu, liebe Gertrud, Adieu, liebe Heldin!
Bernadette Reinhold
Wien, im November 2022